J. Mathieu: Eine vergleichende Geschichte der Berge

Cover
Titel
Die dritte Dimension. Eine vergleichende Geschichte der Berge in der Neuzeit


Autor(en)
Mathieu, Jon
Reihe
Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte WSU 3
Erschienen
Basel 2011: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
242 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Michael Blatter, Historisches Seminar, Universität Luzern

Bisweilen gibt es Bücher, die lassen sich nur mit Mühe angemessen würdigen und rezensieren. «Die dritte Dimension» von Jon Mathieu ist so ein Buch. Dies weil es so gut geschrieben ist, weil sich kein Haar in der sprichwörtlichen Suppe finden lässt. Souverän und unaufgeregt gruppiert Jon Mathieu den immensen Stoff, stellt schlichte und schlaue Vergleiche an und formuliert gleich mehrere aufschlussreiche Erkenntnisse. Ein Genuss also – aber noch keine Würdigung, und daher der Reihe nach.

Auf nur 242 Seiten – inklusive Bibliographie und Register – erzählt Jon Mathieu die Geschichte der Berge dieser Welt während der letzten 500 Jahre. 1492 mit der Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus setzt seine Geschichte ein und schliesst mit dem von der UNO-Vollversammlung proklamierten internationalen Jahr der Berge 2002.

Wie bringt man die weltweit «gleichzeitig ablaufende Geschichte» eines «Gross-Ökosystems» (S. 207) wie der Wüsten, der Meere oder eben der Berge in einem einzigen schmalen Band unter? Jon Mathieu erschliesst die Geschichte der Berge über drei Zugänge, erstens über die wissenschaftliche und politische Wahrnehmung der Gebirge (Kapitel 1), zweitens über die demographische und landwirtschaftliche Lebenswirklichkeit in den Bergen (Kapitel 2 und 3) und drittens schliesslich über die spirituelle Aneignung von Bergen (Kapitel 4).

«Die dritte Dimension» ist bereits die vierte Monographie Jon Mathieus zur Geschichte «des hommes dans le temps» (Marc Bloch) also des Menschen in der Zeit – und im Gebirge. 1987 veröffentlichte Jon Mathieu in seinem ersten Buch die Geschichte eines einzelnen Gebirgstales, 1 1992 erzählte er in einer zweiten Monographie die Geschichte mehrerer alpiner Täler, 2 1998 die Geschichte des gesamten Alpenraums, 3 bis er in dieser seiner vierten Monographie die Geschichte der Berge weltweit in den Blick nimmt. Seine Perspektive weitet sich jedes Mal massiv (obwohl jedes neue Buch mit weniger Seiten und Fussnoten auskommt als das vorhergehende). Je breiter der Blick, desto wichtiger wird die Methode des Vergleichs, bis schliesslich im vorliegenden Buch Vergleiche nicht nur da und dort als praktisches Hilfsmittel eingesetzt werden, sondern der Vergleich zum massgebenden Erzählstrang des gesamten Textes wird.

Zum Beispiel die Verteilung und das Wachstum der Bevölkerung weltweit in Gebirgen und im umliegenden Tiefland: Waren in Südamerika zu Beginn der Neuzeit die Ebenen wie die Pampa oder der Amazonas dünn und die Höhenlagen der Anden vergleichsweise dicht besiedelt, zeigt sich in Ostasien ein anderes Bild. Seit 3000 Jahren ist die ostchinesische Tiefebene dicht besiedelt, von grossem Bevölkerungswachstum und von intensiver Umgestaltung der Landschaft durch den Menschen geprägt. Die Höhenlagen in Yunnan waren dagegen dünn besiedelt. Erst im Verlauf der Neuzeit setzten die intensivere Landwirtschaft, die dichtere Besiedlung und die herrschaftliche Unterwerfung der lokalen Bevölkerung durch Han-China ein. In Ostasien findet man oben, in Südamerika unten, was jeweils als wild und als unzivilisiert galt.

Oder: In den nordamerikanischen Appalachen nahm die Bevölkerung in der Neuzeit sprunghaft zu. Massive Einwanderung und intensive Landwirtschaft führten zur Vertreibung der lokalen Cherokee. Trotz dieser starken Intensivierung und «Zivilisierung» – so zumindest die Sicht der Kolonisatoren – gerieten die Appalachen
ins Hintertreffen gegenüber der benachbarten nordamerikanischen Ostküste. Die exorbitante Industrialisierung und Bevölkerungszunahme in unmittelbarer Nachbarschaft degradierte die Bewohner der Appalachen zu Hinterwäldlern, zu den «Hillybillies».

Oder die «Heiligkeit der Berge»: Während in Asien in der Neuzeit (und schon vorher) strukturierte und elaborierte Kulturen von heiligen Bergen beobachtet werden können, lässt sich in Europa und bei den europäischen Siedlern in Nordamerika im 16. und 17. Jahrhundert keine entsprechende sakrale Verehrung von Bergen feststellen. Erst mit der Modernisierung, mit der europäischen Aufklärung und Romantik, setzte eine gewisse Sakralisierung ein und führte zu einer spezifisch «euro-amerikanischen Naturromantik und ‘Wilderness’-Vorstellung» (S. 202).

Solch unterschiedliche Entwicklungen – und weitere wie die Verteilung der Städte, die Vorlieben für Tierhaltung, die Mobilitätsmuster, die Familienstrukturen usw. – lassen sich nicht schlüssig nur mit geographischer oder klimatischer Exponiertheit fassen und erklären. Jon Mathieu bemerkt dazu trocken, «dass wir für die Erklärung (…) einen beachtlichen theoretischen Freiraum benötigen» (S. 114). Und er nutzt diesen Freiraum, um die globale Geschichte der Berge mit zwei theoretischen Modellen zu beschreiben und zu begreifen, einerseits der Pfadabhängigkeit,
anderseits der Agrarintensivierung.

Pfadabhängigkeit von Entwicklungen kann man vereinfacht als «chronologische Kausalitäten» (S. 99) begreifen. Um beim Vergleich der südamerikanischen Anden und Han-China in Ostasien zu bleiben: Sowohl dass das spanische Vizekönigreich
in Peru in den Anden grösstenteils auf das indianische Altsiedelland aufgepfropft wurde, als auch die anhaltende Privilegierung des Tieflands in China waren durch bereits geschaffene Strukturen und Voraussetzungen präjudiziert. Oder in den Worten Jon Mathieus: «In dieser Sicht war es dann auch nicht der ‘Zufall’, der solche Situationen hervorbrachte, sondern eine andere chronologisch definierte ‘Notwendigkeit’.» (S. 203)

Agrarintensivierung bzw. agrarisches Wachstum stellte auch in Höhenlagen durchaus eine Option dar. In Bergregionen lassen sich unterschiedliche Anbausysteme mit verschiedenen Erntefrequenzen bis hin zum Mehrfachanbau ohne periodische Brache beobachten. Bisweilen waren die Bedingungen gerade in den Höhenlagen besonders günstig, etwa hinsichtlich Bewässerung oder Düngung. Jon Mathieu dazu: «Man muss immer wieder betonen, dass die Gebirgslage für die Landwirtschaft nicht von vorneherein und überall ein Problem bildete» (S. 135). Erst ab einem bestimmten Punkt der Entwicklung stiess Landwirtschaft in Höhenlagen an strukturelle Grenzen. In den europäischen Alpen beispielsweise erwies sich die Höhenlage für die Landwirtschaft erst als Handicap, als im umliegenden Tiefland gedrängte Mehrfachnutzung gängig wurde. Nach einer ersten Phase der Intensivierung wurden Umweltfaktoren der Gebirgslage also erst zu einer späteren Phase der Moderne zu wirklichen Hemmnissen. Wie spät dies effektiv ins Gewicht fallen konnte, zeigt gerade das Beispiel des europäischen Alpenraumes, wo sich «entgegen einer verbreiteten Meinung (…) bis um 1900 keine systematischen Differenzen zwischen den Erträgen der Hoch- und Tieflagen» feststellen lassen (S. 135, Fussnote 28). Vor allem die technische Agrarrevolution, der Einsatz von Maschinen in der Landwirtschaft ab 1850, bescherte den Bergregionen Standortnachteile. Hanglagen erwiesen sich bisweilen als zu steil für Maschinen oder die für den Einsatz der Technik notwendige Verkehrserschliessung war zu aufwendig. Die Technologisierung führte «insgesamt zu einem Selektionsprozess, in dem das Gebirge schlechtere Chancen hatte als das flache Land» (S. 137). Diese junge, aber «relativ systematische Benachteiligung der Bergregionen» (S. 202) hatte offenbar auch Auswirkungen in der Phase der darauffolgenden eigentlichen Indus-trialisierung. Inmitten der atemlosen industriellen Entwicklung der nordamerikanischen Ostküste gerieten die Appalachen zu einem rückständigen Gebiet.

Keine Geschichte der Gebirge ohne Geschichte des Tieflandes, keine Untersuchung eines globalen Gross-Ökosystems ohne Berücksichtigung des Menschen in der Zeit, so könnte man zwei grundlegende Einsichten dieses Buches auf den Punkt bringen. Die Erforschung globaler Gross-Ökosysteme ist ein interdisziplinäres Geschäft, bei dem im Falle der Berge insbesondere geographische und klimatische Erklärungen grosses Gewicht haben. Jon Mathieu rückt dynamische und diachrone Erklärungen wieder in den Vordergrund – wie von einem Historiker auch zu erwarten. Doch ergeht er sich dabei nicht in ermüdenden Belehrungen gegenüber den Kollegen anderer Disziplinen, sondern er zeigt mit eingängigen Vergleichen und knappen Sätzen, welche Erklärungen die Geschichtswissenschaft zum Verständnis der dritten Dimension beisteuern kann.

Unter dem Titel «The Third Dimension: A Comparative History of Mountains in the Modern Era» erschien das Buch unterdessen auf Englisch und ist in Bibliotheken von Canberra bis Washington greifbar. Damit hat «die dritte Dimension» gute Chancen, in den internationalen Debatten zum globalen Gross-Ökosystem Gebirge inskünftig selbst eine anregende und gewichtige Rolle zu spielen.

1 Jon Mathieu, Bauern und Bären. Eine Geschichte des Unterengadins von 1650 bis 1800, Chur 1987.
2 Jon Mathieu, Eine Agrargeschichte der inneren Alpen. Graubünden, Tessin, Wallis 1500–1800, Zürich 1992.
3 Jon Mathieu, Geschichte der Alpen 1500–1900. Umwelt, Entwicklung, Gesellschaft, Wien 1998.

Zitierweise:
Michael Blatter: Rezension zu: Jon Mathieu: Die dritte Dimension. Eine vergleichende Geschichte der Berge in der Neuzeit. Basel, Schwabe, 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 63 Nr. 2, 2013, S.318- 321.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 63 Nr. 2, 2013, S.318- 321.

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